Ich kann mich noch erinnern, dass wir immer reihum vorlesen mussten, solange, bis wir schlucken mussten oder sich jemand verhaspelte, dann musste der Nächste. Ich fand das immer so unangenehm.
Zu den Reclam-Heften: es gab ja preisgünstig nicht nur diese, sondern auch die Taschenbücher von dtv junior, für 7,99 DM. Viele Schullektüren waren von dem Verlag. Meine Güte, waren das noch Preise, wenn ich da an heute denke!
Oh ja - und erst in Bildender Kunst! Wir mussten mal ein Gemälde analysieren, auf dem mittelalterlichen Werk war unten eine Frucht und oben eine Heilige abgebildet. Unser Kunstlehrer war überzeugt: Das ist eine Apfelsine. Apfel und Das Schlechte (beides lateinisch malus) - sine (lateinisch für ohne) = Apfelsine (sine malus = ohne Schlechtes), bezogen auf die Heilige. Nur leider sind sich Kunstexperten einig: die Frucht auf dem Bild ist ein Pfirsich… (kann man so in der Fachliteratur nachschlagen). Wer das mit der Apfelsine nicht richtig nach seiner Meinung gedeutet hatte, war mit der Benotung gleich runter. Oh Mann…
Vielleicht liegt es daran, dass ich selbst keine Kinder habe, aber ich finde es eher richtig, Kinder schon zeitig mit dem real life zu konfrontieren. Körperwelten mit fünf? Ja, ja, ja, besonders, wenn das Kind selbst fragt und wissbegierig ist.
Auch fände ich es richtig, zum Beispiel „Die Wolke“ schon mit 10 oder noch früher lesen zu lassen. So ein Schock, der das ganze Leben nachhallt, bringt sicherlich eher dazu, Atomkraft kritisch zu sehen.
Oder Anne Frank und andere Kriegsbücher schon zeitig zu lesen: Könnte die Erschütterung dafür sorgen, dass diese Kinder für immer gegen Nazis sind? Was gäbe es Besseres? Vielleicht hätten wir dann nicht so viele AfDeppen in der Welt.
Ha, das trifft es wirklich gut. Ich habe oft gedacht, was weiss ich denn was dem Autor beim Schreiben im Kopf rumging? Wobei das bei Gedichten noch extremer war. Und in Geschichte hab ich auch damit gehadert - das war übrigens derselbe Lehrer…diese ganzen „Laberfächer“ (so haben wir das damals jedenfalls liebevoll genannt) waren nicht meins, ich kam einfach viel besser mit Mathe und Naturwissenschaften klar.
Ich bin Realist: nein, ich glaube leider nicht, dass zeitiges Lesen dementsprechender Literatur allein die künftigen AfDeppen verhindert. Da fehlt es noch an mehr, bedauerlicherweise.
Zumal Apfelsinen in Europa auch erst seit dem 15. Jhdt. kultiviert werden, hab ich zufällig kürzlich gelesen. Könnte mit dem Mittelalter also knapp werden
Ging mir ganz genauso - Laberfächer, ja, so nannten wir das auch. MINT war auch meins, bin ja Mathematikerin geworden. Ich erinnere mich noch an eine eingebildete Deutschlehrerin, die sich brüstete, dass Abschlussarbeiten in Germanistik oft mehrere hundert Seiten umfassten, während mache naturwissenschaftlichen Arbeiten bloß knapp 100 Seiten haben. Mit einem triumphierenden Blick in die Richtung von mir und meiner Banknachbarin (beide M/PH-LK).
Da gebe ich Dir zum Teil recht. Körperwelten hätte ich damals auch gerne gesehen, aber das wäre in meinen Augen kein Pflichtprogramm für jedes Alter, manche sind einfach noch zu jung dafür. Und nächtelange Alpträume können da auch sehr kontraproduktiv sein.
In der Schule muss man etwas finden, was für alle gleichermaßen passt, aber grundsätzlich finde ich auch dass wichtige Themen rechtzeitig angegangen werden sollten. Toll finde ich es dann zum Beispiel, wenn Anne Frank in Deutsch gleichzeitig mit Nationalsozialismus in Geschichte drankommt. Unser Sohn war dann auch noch auf Ausflug ins Hotel Silber, da wurde das Thema also sehr umfassend und anschaulich behandelt. Da hat er sogar von sich aus mal was aus der Schule erzählt was eine echte Seltenheit ist.
Seit ich selbst ein Kind habe, habe ich meine Meinung in vielem revidieren müssen, und ich denke, dass man großen Schaden anrichten kann, wenn man ein Kind zu früh mit etwas konfrontiert, das es noch nicht verarbeiten kann. Die Gehirnentwicklung ist ein sensibler Prozess, und zwischen einem Kind mit 9 und mit 12 liegt im Allgemeinen ein himmelweiter Unterschied. Dass innerhalb eines Jahrgangs die Bandbreite sehr hoch ist, ist natürlich auch klar. Letztendlich kann für das einzelne Kind nur eine nahe Bezugsperson entscheiden, was schon möglich ist. Für Klassenlektüren, die von allen Kindern gelesen werden, muss man aber den durchschnittlichen Entwicklungsstand berücksichtigen.
Ich bin sehr dafür, Kinder mit schwierigen Themen zu konfrontieren, aber Ängste zu schüren oder bewusst zu schockieren, darf nicht das Ziel sein. Bewusstsein schaffen für diese Themen ist hingegen wichtig. Meiner Erfahrung nach fühlen sich Kinder schnell hilflos, wenn sie mit Themen konfrontiert werden, deren Bewältigung sie selbst nicht in der Hand haben, und dazu gehören Atomkrieg, Super-GAU, Tod etc. Das erfordert dann schon eine große Sensibilität seitens der Lehrer:innen, um das Buch entsprechend einzuordnen und zu verarbeiten.
Aktuell leiden über 20% der Kinder und Jugendlichen unter psychischen Auffälligkeiten, der Anteil ist durch Corona signifikant gestiegen, insbesondere bei Angststörungen und depressiven Symptomen. Auch das ist dabei zu berücksichtigen. Diesen Kindern nach dem Motto „je früher, desto besser“ einfach mal schwere Themen vorzusetzen, und schauen, was passiert, kann gehörig nach hinten losgehen. Ein verantwortungsvoller Umgang ist in meinen Augen unerlässlich.
Gerade im jungen Alter kann man sehr, sehr viel Schaden bei der kindlichen psyche anrichten, da reichen in den Augen von Erwachsenen Nichtigkeiten, die Kinder schwerstens verstören können!
Ich erinne mich gut bei mir selbst, als mein Opa sich aufgrund einer Op bei mir und meinem Cousin (wir waren beide 5) verabschiedet hat, weil er ja jetzt sterben könnte. Es hat sich bei mir diese Szenerie so eingebrannt, dass ich noch heute vor Augen habe wie wir da gesessen sind und er im Krankenbett. Ich hatte lange Zeit furchtbare Angstzustände und bin jede nacht ins bett meiner Eltern weil jemand sterben könnte. Ein einfaches Gespräch, das wahrscheinlich nicht böse gemeint war von einem depressiven älter werdendem Opa, aber sehr viel ausgelöst hat.
Allerdings muss auch die neuere Literatur interessant sein… „Agnes“ von Peter Stamm war nicht so mein Interesse. Beispielhaft für die „Überanalyse“ im Deutschunterricht, war die stundenlange Analyse der Sternbilder am Nachthimmel, die wohl laut unserer Deutschlehrerin sehr zentral für die ganze Handlung war. Kurz vor den Prüfungen wurden die Sternbilder dann aus der Ausgabe genommen und es wurde nur noch der Nachthimmel betrachtet…
Ja, mir geht es ganz genauso. Ich könnte die beiden Bücher auch nicht noch einmal lesen, ich habe da wirklich ein kleines Trauma. Ich bin in deinem Alter, wahrscheinlich war das damals Pflichtlektüre.
Ich lese auch Triller, aber das ist eben fiktiv, das damals war sehr greifbar und ich konnte damit nicht umgehen.
Wäre interessant, wie mein jetziges altes Ich das empfinden würde, aber ich könnte mich nicht überwinden.
Da hatten wir komplett identische Schullektüre. Bei mir war noch Rolltreppe abwärts dabei, daran kann ich mich aber nicht mehr wirklich erinnern, das fand ich uninteressant.
Zu Deiner Frage bzgl. meiner Alterseinordnung zu atomarer Nutzung und Folgen.
Erstmal: Ja, ich finde die Diskussion auch sehr spannend und andere Einschätzungen erst recht.
Die Thematik an sich ist es nicht, das war und ist wichtig und hat uns damals viel mehr als heute beschäftigt, das war sehr greifbar nach Tschernobyl.
Mich hat die Art und Weise der Behandlung so verstört.
Ich glaube, wir haben es in der achten Klasse gelesen. In der siebten Klasse „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ und dann ein Jahr später „Die Kinder von…“.
Ich hätte letzteres für die 10. für mich persönlich gesehen, nicht vorher.
Ich kam aus einer Hanni und Nanni Lesewelt in die 7. Klasse, ich habe schon am rosa Kaninchen zu knabbern gehabt (das war aber auch gut so).
Gerade bei Judith Kerrs Rosa Kaninchen hatte ich den Eindruck, dass sich die Altersempfehlung bei Jugendromanen nach unten verschiebt, wenn ein Buch bekannter wird, länger auf dem Markt ist, der Zugang durch Hörbücher erleichtert wird oder es bereits verfilmt wurde. Dass Kinder Interesse daran haben, macht ein Buch für die Zielgruppe ab 12 ja noch nicht zur geeigneten Lektüre für Viertklässler.
Zu bedenken wäre, dass Zehnjährige durch den Schulwechsel in der 5. Klasse durchaus mit traumatischen Themen in Kontakt kommen, vor denen man sie als Eltern gern länger bewahrt hätte. Wenn geflüchtete Kinder aus zwei kriegführenden Nationen in der Klasse sitzen, in den Nachrichten Kindersoldaten oder Staaten zu sehen sind, die Panzer auf die eigene Bevölkerung richten, fällt es mir schwer, einem Zehnjährigen zu sagen: du bist für die Rosa-Kaninchen-Trilogie zu jung.
Ich verstehe nicht ganz, was das mit dem Schulwechsel zu tun hat. Wir hatten bereits im KiGa geflüchtete Kinder in der Gruppe, ebenso in der Grundschule.
Aber ich verstehe, was Du generell sagen möchtest. Unser Sohn sieht zwar keine Nachrichten, da wir keinen TV haben, aber im Internet hat er natürlich auch Zugriff auf diese Informationen, ebenso wird unter Gleichaltrigen ja darüber gesprochen, und die Gespräche zwischen meinem Mann und mir bekommt er natürlich auch mit.
Ich habe es hier manchmal mit Büchern, dass ich sie mir als „modernen“ Schullesestoff gut vorstellen kann, z.b „Kollektorgang“ oder auch „Feuerwanzen lügen nicht“. Da steckt ganz viel wertvolles drin, das man bearbeiten könnte. Freiwillig reizen solche Bücher meine Kinder leider nicht. Man kann davon ausgehen, dass sie ein Buch ablehnen, weil ich es empfehlenswert finde.
Vielleicht sollte ich YA lesen und anpreisen, dann wird aus Protest etwas anderes gelesen
Das halte ich schon für normal, dass man sich freiwllig lieber mit Unterhaltungsliteratur beschäftigt als mit schwierigen Themen. Geht uns Erwachsenen ja auch oft ähnlich, dass wir lieber zum neuesten Thriller greifen als uns Kafka zu Gemüte zu führen.
Schullektüre muss Kinder schon ein bisschen zu ihrem Glück/geistigem Wachstum zwingen, und der Nutzen wird oft erst rückblickend klar. Diese Bücher, bei denen ich mir denke, dass ich sie sehr gerne als Schullektüre sehen würde, begegnen mir auch immer wieder, neben Kollektorgang zB Elektrizität und Himmelsfische (Ukraine-Krieg) , Unsichtbar, Von Null auf Held (Geflüchtete) usw. Unsichtbar hätte mir als Schülerin zB sicher sehr gut gefallen, Elektrizität und Himmelsfische ist dagegen ein Buch, das ich als Erwachsene aufgrund der ungewöhnlichen Erzählweise, der Metaebenen und vielen Interpretationsmöglichkeiten spannend und wirklich toll finde, aber als Schülerin hätte ich wohl weniger Lust darauf gehabt.
Ich persönlich fand grade Die Wolke richtig schlimm, das hat bei mir massive Panikattacken ausgelöst, ich musste es dann aber auch nicht weiter lesen und konnte in den Stunden, wo in der Klasse der Film gesehen wurde, in eine andere Klasse ausweichen. Die Klausur zu dem Thema habe ich dann auch nicht mitschreiben müssen, sondern eine alternative Lektüre bekommen, zu der die Prüfung dann war. Ich war damals in der 9. Klasse, fand das von den Lehrern richtig gut gelöst.
Meine persönliche Meinung ist, dass wenigstens die Möglichkeiten gegeben werden sollten, dass soetwas begleitet gelesen wird, aber niemand dazu gezwungen werden darf und die Schüler auch nicht zu jung sein dürfen.
Naja, nachdem ich einen Heulkrampf beim Schauen einer Szene aus dem Film im Unterricht bekommen hatte und danach morgens bei dem Gedanken an die nächste Deutsch-Stunde eine kleine Panikattacke hatte, hat meine Mama das alles geregelt. Aber ich fand es auch echt gut, wie meine Lehrerin damit umgegangen ist. Sie hat direkt eine Alternative entwickelt und mich unterstützt und mir die Möglichkeit gegeben, auf meine Art mit dem Buch umzugehen.
Die Klasse hat dagegen echt beschissen reagiert, aber ich muss sagen, dass ich die Leute vorher schon nicht wirklich mochte.